Berliner Zeitungsviertel

14Treppenwitz der Zeitungsgeschichte(1)

Jüdische Hochfinanz rettete Scherl vor „jüdischem Zugriff“

Als August Scherl nicht mehr Herr im eigenen Haus war, leitete er den Verkauf seiner verbliebenen Stammanteile ein. Nur die Nachbarn Mosse und Ullstein wären finanzkräftig genug gewesen, Scherl zu übernehmen, und Mosse steckte ja ohnehin schon drin. Scherl schürte 1913 bei Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg das Gerücht von angeblichen Kaufabsichten Rudolf Mosses. In den höchsten und allerhöchsten Regierungskreisen führte das zu Unbehagen bis hin zu heller Aufregung. Man wollte mit allen Mitteln verhindern, dass der erzkonservative wilhelminische Scherl-Verlag von einem der beiden liberalen, anti-imperialistischen, vor allem aber jüdischen Verlagen geschluckt wurde.

Es mutet wie ein Treppenwitz der Zeitungsgeschichte an, dass die Regierung ausgerechnet zwei Repräsentanten der jüdischen Hochfinanz fand, um Scherl vor dem „jüdischen Zugriff“ zu retten. Die Kölner Bankiers Baron Simon Alfred von Oppenheim und Louis Hagen machten genügend kaisertreue Bürger aus, wie sie es selbst waren, um in einem Finanzkonsortium einen Teil der von Scherl geforderten Millionen aufzubringen. Am 1. Mai 1914 übernahm der Zusammenschluss dieser 59 „wohlhabenden Herren“ im Deutschen Verlagsverein die Scherl-Aktien. Doch bald stellte sich bei dem Herrenclub, der vom Zeitungsgeschäft keine Ahnung hatte, heraus, dass noch acht Millionen nachgeschossen werden mussten, damit die Scherl-Anteile nicht in „unerwünschte Hände“ kamen.

Der Zeitungsverkäufer (Bild unten) personifizierte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Zeitungsviertel in Berlin.